Chinesischer Chor auf der Bühne

"Traditionelle Musik aus China ist nur einen Schritt von der Weltmusik entfernt"

Interview mit dem chinesischen Komponisten Liu Xiaogeng

Internationale Chorszene

Professor Liu Xiao-Geng ist preisgekrönter Komponist aus China. Er hat Musik vieler verschiedener Gattungen komponiert, darunter Sinfonien, Ballett, Chormusik, Vokal- und Instrumentalsolomusik. In einem Interview mit Xu Qian, Generalsekretäring der Shenzhen Chorus Association, spricht er über seine Musik und die Entwicklung chinesischer Chormusik in den letzten Jahren.

Xu Qian: Laut Statistik wurden Ihre Kompositionen im Jahr 2019 bei internationalen Wettbewerben und Konzerten am häufigsten von chinesischen Chören aufgeführt. Wie ich weiß, konzentrieren Sie sich schon Ihr ganzes Leben lang auf traditionelle klassische Musikkompositionen. Ihre Werke decken so viele verschiedene Stile ab – woher nehmen Sie Ihre Inspiration?

Liu Xiaogeng: In den vergangenen Jahrzehnten habe ich in jedem Dorf, jedem Wald und jedem Feld in Yunnan meine Spuren hinterlassen, als ich Tausende von Volksliedern von den Menschen sammelte. Diese Materialien sowie die lokalen Bräuche ethnischer Minderheiten in verschiedenen Regionen sind in meinem Gedächtnis tief eingeprägt. Die Klänge, die von diesem Land ausgehen, regen meine kreative Inspiration an, sie sind fest in meinem Herzen verwurzelt.

Xu Qian: In Ihren Werken gibt es viele uralte Elemente verschiedener Völker, sie klingen wie Musik aus einer sehr alten Vergangenheit, folgen aber inzwischen auch der Zeitgenössischen Kunst. Wie definieren Sie Ihre eigenen Werke?

Liu Xiaogeng: Traditionelle Musik aus China ist nur einen Schritt von der Weltmusik entfernt. Aufgrund des rückständigen Transportwesens und der rückständigen Wirtschaft in einer sehr langen Periode ist viel alte Musik tief in den Bergen vergraben, und niemand kennt sie. Aus diesem Grund habe ich immer darüber nachgedacht, wie ich die Volksmusik, die von den Vorfahren verschiedener Nationalitäten mündlich überliefert wurde, heute weiterführen kann. Der größte Teil der traditionellen Musik in China wird monophon präsentiert. Deshalb muss sie gebrochen, neu kombiniert und gespalten werden, um sie auf ein bestehendes hohes künstlerisches Niveau zu bringen.

Xu Qian: Viele Völker, die in China leben, haben zwar ihre eigene Sprache, aber keinen definierten Charakter. Sie verwenden in Ihren Werken ziemlich viele dieser Sprachen – was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten, um sie in Ihren Werken zu übertragen?

Liu Xiaogeng: Die Muttersprache der Minderheiten hat ihren einzigartigen Charme, deshalb ist die Verwendung der Muttersprache zur Schaffung von Werken verschiedener Nationalitäten die Richtung, auf die ich lange Zeit bestanden habe. In den frühen 1990er Jahren komponierte ich das Stück "Water Beetles” für Kinderchöre, in dem ich die Sprache des Zhuang-Volkes nutzte. Viele chinesische Kinderchöre wählen dieses Werk für Auftritte bei den World Choir Games und erzielen damit gute Ergebnisse. Ein typisches Beispiel ist auch “Saliluo”. In diesem Werk nutze ich Elemente aus der Muttersprache von acht verschiedenen Nationalitäten und minimalistische zeitgenössische Kompositionstechniken, um einen bunten und lebendigen künstlerischen Effekt zu erzielen. 2017, im Jubiläumskonzert zum 20jährigen Bestehen des Shenzhen Lily Girls’ Choir forderten Sie mein Werk “Tattoo” heraus, welche ursprünglich für Männerchor komponiert wurde und das die Geschichte der Opferung der Männlichkeit bei dem Dai-Volk erzählt. Als ich es komponierte, hörte ich mir mehr als 700 Verse aus alten Religionen der Dai in ihrer eigenen Sprache immer und immer wieder an und wählte schließlich mehrere Phrasen aus und vereinte in diesem Stück die große Spannung aus Sprache und Musik. Die grundlegende Mission meines Schaffens besteht darin, die Schönheit des Chors über die Muttersprache der Minderheit zu entdecken, zu teilen und weiterzugeben.

Xu Qian: Als produktivster Komponist in der Kunst der Völker – von welcher Auftragsarbeit träumen Sie noch? 

Liu Xiaogeng: Traditionelle chinesische Volksmusik ist umfangreich und tiefgründig. Immer, wenn ich die Tür zur Musik eines Volkes betrete, habe ich das Gefühl, einen neuen Kontinent zu entdecken. Ich hoffe, diese wenig bekannte Volksmusik auszugraben, zu arrangieren und zu gestalten, so wie es die großen ungarischen Komponisten Bartok und Kodály taten, damit Menschen auf der ganzen Welt an diesem tiefen, immateriellen Kulturerbe teilhaben können.

Xu Qian: Erinnern Sie sich noch an eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ensemble, für das Sie komponiert haben? 

Liu Xiaogeng: Als ich die Universität abgeschlossen hatte, war es mein Traum, große Werke für Symphonieorchester zu schreiben. Aufgrund verschiedener Einschränkungen begann ich jedoch, mich für den Chorgesang zu interessieren. Seit dem Jahr 2000, als chinesische Chöre begannen, die Bühnen der World Choir Games zu betreten, gaben immer mehr Chöre Werke bei mir in Auftrag, wie z.B. der Mädchenchor der Shenzhen Senior High School Lily, der Guangzhou Little Lark Children's Choir, der South China Normal University Choir usw. Es sind wunderbare Chöre.

Xu Qian: Gibt es eine Geschichte von Ihren Erkundungen der gefährlichsten Orte, die Sie uns erzählen können? 

Liu Xiaogeng: Ende der 1970er Jahre begann ich, speziell zum Sammeln von Volksmusik aufs Land zu gehen. Damals waren die Bedingungen sehr schwierig. An vielen Orten gab es weder Straßen noch Elektrizität, so dass ich mit dem Pferd oder zu Fuß reisen musste. Als ich einmal die berühmte Sängerin Sa Dingding begleitete, um ein Volkslied in dem Dorf "Kleiner Brunnen" zu sammeln, kam es zu einem sehr schweren Autounfall, bei dem ich fast mein Leben verloren hätte. In der Tat begleitete uns jedes Mal ein enormes Risiko, wenn wir tief ins Hinterland der ethnischen Völker fuhren, um ihre Lieder zu sammeln, aber wir haben es um unserer hartnäckigen Verfolgung willen stets ignoriert.

Xu Qian: In einer turbulenten Gegenwart ist es schwer, der jungen Generation lange Aufmerksamkeit zu schenken. Wie sehen Sie die Zukunft der chinesischen Chormusik?

Liu Xiaogeng: Das größte Leid meiner Generation ist es, dass wir 10 Jahre lang nicht zur Schule gehen konnten (die chinesische Kulturrevolution). Nach der Wiederaufnahme der nationalen Aufnahmeprüfung der Hochschulen im Jahr 1977 konnte ich an die Universität gehen und mich auf Musikkomposition konzentrieren - das war das größte Glück in meinem Leben, deshalb habe ich diese Möglichkeit wirklich sehr geschätzt und sehr hart studiert. Die chinesische Chorkunst hat erst ziemlich spät begonnen (sie hat eine Geschichte von etwa 100 Jahren), womit sie weit hinter den entwickelten Ländern der Welt liegt. Sie muss in technischen, künstlerischen und ideologischen Aspekten ihrer Werke weiter verbessert werden. Ich hoffe, dass mehr junge Menschen ins Ausland gehen könnten, um den Trend der zeitgenössischen Chormusikwelt kennen zu lernen und Originalwerke von guter Qualität zu schaffen, um die Entwicklung der chinesischen Chorkunst zu fördern.

Xu Qian: Was hat Sie in Ihrer Karriere am meisten beeinflusst? 

Liu Xiaogeng: Ein wichtiger Wendepunkt in meiner Karriere war 1996, als ich auf Einladung von Dr. Francisco Feliciano für ein Jahr als Gastwissenschaftler an der Asian School of Religious Rites Music auf die Philippinen ging, dessen Dekan Dr. Feliciano war. Jeden Morgen besuchte ich Kirchenchorklassen und hörte, wie Experten aus verschiedenen Ländern ihre Chorlieder in ihrer Muttersprache unterrichteten. Es inspirierte mich, zu sehen, wie sich westlicher Kirchenchorgesang mit der indigenen Musik der Philippinen vermischte. Nachdem ich 1997 nach China zurückgekehrt war, komponierte ich ein Stück mit dem Titel "Coming Home", in dem die einheimischen Sprachen verschiedener Völker mit den westlichen Gesängen verwoben wurden, was einen fantastischen Bühneneffekt erzeugte. Seitdem hat sich der Schreibstil meines muttersprachlichen Chorgesangs allmählich herausgebildet und ausgeweitet. Ich glaube fest daran, dass dieser Weg immer breiter werden wird.

Liu Xiao-Geng sammelt traditionelle Musik © Liu Xiao-Geng Liu Xiao-Geng sammelt traditionelle Musik © Liu Xiao-Geng Liu Xiao-Geng sammelt traditionelle Musik © Liu Xiao-Geng

Professor Liu Xiaogeng

Professor Liu Xiaogeng ist ein preisgekrönter Komponist aus China. Er hat Musik vieler verschiedener Gattungen komponiert, darunter Sinfonien, Ballett, Chormusik, Vokal- und Instrumentalsolomusik. Er komponierte auch Musik für verschiedene Medien, wie Musik für Film, Fernsehen sowie Musik für öffentliche Plätze. In den letzten Jahrzehnten haben Professor Lius Fußstapfen jeden Winkel der Provinz Yun Nan erfasst. Eine seiner kompositorischen Signaturen ist die Verwendung ethnischer Sprachen für seine Chorkompositionen. Sein Chor, Yun Nan Po Ya Songbook Chorus gewann den Ersten Preis in der Kategorie "Folklore A Cappella" bei den 9. World Choir Games in Sotschi im Juli 2016. Unter seinen bekanntesten Werken sind Do Sha A Bo Symphony; A nest full of birds for vocal trio; Water Beetles, Salilo, Going Home, und Running Brook for chorus. Seine Stücke werden in verschiedenen Kollektionen veröffentlicht, darunter Echo of Yun Nan, Song of the River, Devotion to Long Blade, and PoYa Songbook. Professor Yang Hongnian, ein bekannter chinesischer Choleiter, sagte einst: “Xiaogeng sammelte das Wesentliche der musikalischen Elemente vieler Ethnien, die in der Provinz Yunnan leben, und brachte sie in den musikalischen Fluss der Weltmusik, wodurch die Welt viel reicher wurde und erfrischende neue Ressourcen erhielt. Wenn wir seine Musik hören, können wir fast die frische Luft im Hochland atmen. Seine Musik erhält ständig neues Leben.”

Autorin: Xu Qian

Xu Qian ist seit zehn Jahren als Organisatorin von Chorveranstaltungen tätig. Von 2011-2018 arbeitete sie als Projektleiterin des INTERKULTUR-Büros in China und war auch für die Bildungsabteilung verantwortlich. Sie organisierte Hunderte von internationalen Chorleiter-Workshops & Meisterklassen in über 20 Städten Chinas und arbeitete als Ausschussmitglied für mehr als 10 internationale Chorfestivalprojekte. 2019 wurde Xu Qian zur Generalsekretärin der Shenzhen Chorus Association gewählt und wird von der Regierung von Shenzhen für ihre Arbeit für das Shenzhen Choir Festival als Direktorin für internationale Angelegenheiten & PR hoch gelobt. Sie gründete die Shenzhen Xinghan Culture and Arts Development Company, die für hochkarätige Chöre aus China Tourneen in der ganzen Welt organisiert, unter anderem für den Shenzhen Star Bright Choir, der Shenzhen Senior High School Lily Girls' Choir, der Shenzhen Middle School Golden Bell Children's Choir, den Tianjin University Peiyang Choir...etc. Neben ihrer Tätigkeit in Shenzhen ist Xu Qian auch künstlerische Beraterin für verschiedene Veranstaltungen, u.a. für das Hainan Maritime Silk Road Choir Festival. Sie wurde eingeladen, als Direktorin des Büros der Internationalen Akademie des Chinese Chorus Association Online Choir College zu fungieren. Ihre Hauptfächer an der Universität waren Englisch und Betriebswirtschaft, aber nach ihrem Abschluss widmete sie ihre Arbeit und Karriere hauptsächlich der Organisation von Chorveranstaltungen.

VERWANDTE NEWS