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Ein Blick auf die internationale Chorszene: Russland

Interview mit der russischen Chorlegende Vladimir Minin

Internationale Chorszene

Wie steht es um die internationale Chorszene? Nach Einblicken aus den USA und China werfen wir nun einen Blick nach Russland: Vladimir Minin, russische Chorlegende, beantwortet uns einige Frage zum aktuellen Zustand der Chormusik in seinem Heimatland.

Wie steht es aktuell – nach 8 Monaten Coronapandemie – um die Chorlandschaft in Russland?

Leider sind die aktuellen „(Jahres)zeiten“ weniger positiv als „Die Jahreszeiten“ von Tschaikowsky oder Vivaldi. Ich denke, dass es noch ein weiter Weg bis zur Wiederherstellung der Situation wie vor der Pandemie ist.

Über den Stand der Dinge bei Laienchören, die natürlich in Russland die Mehrheit bilden, ist mir wenig bekannt. Es scheint, dass es keine Quellen gibt, die dieses Problem behandeln. Professionelle Chöre hingegen werden nach und nach aktiver. Dieser Prozess wird jedoch durch die Tatsache erschwert, dass Covid-19 durch Tröpfchen in der Luft verbreitet wird und der Gesangsprozess, wie Sie wissen, mit intensiver Atmung verbunden ist. Einerseits vermissen wir es, unsere Gefühle beim Singen auszudrücken, und die aufrichtige Kommunikation mit unseren MitsängerInnen, den schöpferischen Prozess, aber andererseits herrschen Angst und Wachsamkeit. Mit einem Wort, ich würde den gegenwärtigen Stand des Chorlebens in Russland mit dem Wechsel der Jahreszeiten vergleichen - wenn der Winter noch nicht aufgegeben hat, der Frühling aber unbemerkt den Prozess des „Einschleichens" seiner Herrschaft beginnt.

Mit welchen Strategien begegnen die Chöre in Russland der veränderten Situation?

Im Moment beginnen sie, sich in Gruppen oder Einzelpersonen zu engagieren und dabei Vorsichtsmaßnahmen zu beachten: Masken, Desinfektionsmittel, tägliche Temperaturmessungen und natürlich keine Umarmungen, die sonst verbreitet sind. Diejenigen Chöre, die in der Lage sind, die entsprechenden Bedingungen zu erfüllen, erlauben sich allgemeine Proben, wenn auch zeitlich eingeschränkt. Einige Chöre begannen Konzerte zu geben. Darüber hinaus veröffentlichen Chöre ihre Aufnahmen während der Quarantäne im Internet - Solo oder als Ensemble und sogar im Chor, wo jedes Mitglied des Chores unter der Leitung des Dirigenten die Aufnahme zu Hause durchführte. Mit dem gegenwärtigen Stand der technologischen Entwicklung ist dies durchaus machbar. So passen wir uns an, um die aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden. Unser Chor sang daher zwei Stücke aus Rossini`s „Kleine feierliche Messe“ - eine Doppelfuge (Nr. 7) und „Agnus Dei“.

Was sind in Ihrem persönlichen Umfeld die größten Einschränkungen durch die Coronarestriktionen und wie gehen sie damit um?

Antwort: Natürlich ist vieles nicht mehr verfügbar und natürlich ist die Palette möglicher Aktivitäten stark eingeschränkt. Aber habe ich darunter gelitten? Eher nicht! Ich las viel und begriff das Sprichwort: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Bücher über Geschichte, Dokumentationen und Memoirenliteratur wurden meine "Zellengenossen". Außerdem ist es so angenehm, noch einmal zu lesen, was ich zuvor gelesen habe - Tolstoi und Gogol, Puschkin und Tschechow, J. London und Zweig usw. Außerdem habe ich mit Chorleitern eine Meisterklasse zum Thema "INTERPRETATION" via Internet durchgeführt. Also habe ich diese Zeit sehr gut und nützlich verbracht.

Wie wird sich Ihrer Einschätzung nach, die Kulturlandschaft in Russland durch die Pandemie verändern?

Im Jahre 2004 hat die Vogelgrippe fast die ganze Welt betroffen. Wie hat sich dies auf das kulturelle Leben ausgewirkt? Gar nicht. Natürlich gab es Verluste einiger Kunstschaffenden, die erkrankten. Ich denke, dasselbe kann mit Covid-19 passieren. Die Einführung von Einschränkungen ist immer noch eine vorübergehende Maßnahme, und am Ende wird das Leben seinen Tribut fordern.

Was bedeutet die aktuelle Situation ihrer Meinung nach für das weitere Zusammenkommen und den internationalen Austausch mit Chören auf internationaler Ebene?

Wenn wir von der Vorbedingung ausgehen, dass jede Handlung zum Widerstand führt, können wir hoffen, dass Dichter und Komponisten unter dem Einfluss der vorherrschenden Umstände Werke mit einigen neuen Schattierungen schaffen, die unser sterbliches Leben wiederspiegeln. Wie sich herausstellt, ist unsere Welt ziemlich fragil, daher ist der Informationsaustausch von „INTERKULTUR“ über chorale Aktionen von großer Bedeutung. Es war sehr nützlich und wichtig für mich, die Weltchorbewegung in Sotschi 2016 kennenzulernen, um moderne Trends in der Welt der Chöre zu hören.

Wie schätzen Sie die Auswirkungen der aktuellen Krise auf die nationale Chorszene in Russland ein? Werden digitale Angebote und Technologien für die Chorarbeit zunehmend attraktiver oder sind sie eher ein momentanes Mittel zum Zweck?

Die Frage enthält schon die Antwort: Digitale Technologien sind ein vorübergehendes Mittel, ein Ausweg, ein Instrument zum Informationsaustausch – mehr aber nicht. Keine Technik kann die lebendige Energie des Chores vermitteln, und die subtilen Feinheiten der Bewegung seiner kollektiven Seele. Was die Folgen dieser Pandemie in Russland betrifft, wird vieles davon abhängen, wie das Genre der Chorkunst die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich ziehen wird, denn die Chorkunst ist ein wahrer Vermittler des ursprünglichen russischen Geistes.

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